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Zu Tisch mit Tschanz "Ein wegweisender und lehrreicher Satz"

Ich steige in die Box. Meine Hände sind kalt, eiskalt. Der Schweiss läuft mir kühl das Gesicht hinunter. Die Ladung Koffein, die ich vor dem Match eingenommen habe, lässt mein Herz noch höherschlagen. Ich realisiere nicht, in welchem Moment ich mich gerade befinde. Dann fängt es an. Ich stehe wie angewurzelt am Tisch, meine Füsse bewegen sich nicht. Mein Arm ist schwer wie Eisen. Ich mache keinen einzigen Punkt. Ich weiss nicht, wie ich einen Punkt gewinnen kann. Wie spielt man Tischtennis?


Wir haben das Jahr 2016. Ich habe national den Durchbruch in der Alterskategorie bei den unter 18-Jährigen geschafft. Ich bin erstmals für die Jugend-Europameisterschaften aufgeboten worden. Ein Kindheitstraum geht für mich damit in Erfüllung.

Nach zwei Siegen und einer Niederlage meines Teams in drei Spielen komme ich endlich zum Zuge. Zu meinem ersten Einsatz für die Schweizer Nationalmannschaft. Im Spiel gegen Israel steht es eins zu eins. Dann komme ich. Mein Spiel könnte für eine Vorentscheidung sorgen. Ich muss es gewinnen, damit wir noch die Chance für einen Aufstieg haben.


Und dann das. 1. Satz: 0:11. Noch nie habe ich einen Satz 0:11 verloren. Wie geschockt trete ich zu meinem Trainer und Team an den Seitenrand. Meinen Einstand habe ich mir anders vorgestellt. Doch ich spüre von ihnen eine Zuversicht, etwas, was ich in diesem Moment selber nicht habe. Sie glauben an meinen Sieg. Ich sehe es in Ihren Augen.

Ihre Augen haben mich aufgeweckt. Ich kann aus meinem schlechten Traum aufwachen. Ich erinnere mich wieder an alles und komme langsam in meinen Flow. Ich realisiere, dass es total unnötig ist, sich so einen riesigen Druck aufzubürden. Ich habe mein ganzes Leben für diese Situation trainiert und weiss, dass mein Körper von selber übernehmen wird. Ich kann es schaffen.


Ich gehe an den Tisch zurück und gewinne die nächsten drei Sätze. Ich fege meinen Gegner von der Platte. Ich spiele wie von einem anderen Stern. Und wir als Team schlagen Israel.


Auch heute bin ich noch nervös, wenn ich zu wichtigen Spielen antrete, aber einen Satz 0:11 zu verlieren – das kommt nicht mehr vor. Ich habe gelernt mit einem richtigen Muskeltonus zu spielen. Weder zu locker noch zu angespannt. Druck ist mein ständiger Freund geworden.

Dazu kommt das Wichtigste: Wenn man sein ganzes Potenzial abruft und wirklich alles gibt, dann spielen Sieg und Niederlage keine Rolle. Man hat alles aus der aktuellen Situation rausgeholt und kann sich nichts vorwerfen. Es ist erstaunlich, wie viel man in einem einzigen Satz lernen kann.

Diese Kolumne ist am 04.03 2021 in der Volksstimme - Die Zeitung für das Oberbaselbiet erschienen.

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